Notationen im Gewebe
Joanna Mico arbeitet abstrakt und mit repetitiver Geste zu den Differenzen in der Wiederholung –
meist subtrakiv, feine Linien aus Stoffen entwebend.
Joanna Micos künstlerische Praxis liegt an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Literatur. Sie
drückt ihre Ideen in verschiedenen Medien aus, darunter textile Arbeiten, Lecture-Performances und
poetische Texte. Als Literaturwissenschaftlerin zunächst in der Lyrik zuhause, testet Mico immer
wieder die Präsentation von Text im Raum über das Bindeglied Stoff. Nach einer längeren Care-Pause
beginnt sie nach dem Tod ihres Bruders vor vier Jahren erneut zu schreiben, sucht bald aber nach
einer anderen, passenderen Ausdrucksform – einem Schreiben ohne Worte. So entwickelt sie ab
2023 ihre Art des 'textilen Schreibens', eine ganz eigene abstrakte, poetische Arbeitsweise, die sich
vor allem durch Reduktion auszeichnet.
Ihr Material für diese Notationen im Gewebe findet Joanna Mico in alten Bettlaken aus
gebrochenweißem Leinen oder Baumwolle, die sie minimalistisch bearbeitet. In einem sehr
zeitaufwändigen Prozess, entwebt sie den Stoff, entzieht ihm Fäden und zieht damit in einer Art
Negativverfahren Linien, die Leerstellen sind und von Abwesenheit zeugen. Diese textilen
Entwebungen sind zumeist minimalistisch-abstrakt, außer wenn die Künstlerin (zu Beginn der Serie)
einige farbige Akzente aufstickt oder getrocknete Pflanzenteile integriert. In dieser ersten Phase zeigt
Micos Werk Parallelen zu jenem der spanisch-französischen Künstlerin Paca Sanchez, die getrocknete
Pflanzenteile in minimalistischen Kompositionen arrangiert.(1) Schnell beschränkt sich Joanna Mico jedoch gänzlich auf den weißen Stoff, dem sie ab und an auch
etwas kaum Sichtbares hinzufügt. So umwickelt sie einzelne Fäden im Stoff mit dünnem weißen Garn,
was sie als 'Narben' bezeichnet, die sowohl von Reparatur zeugen als auch an etwas Schmerzhaftes
erinnern können. Als sie während ihres Residenzaufenthaltes in Berlin mit den im Stadtraum
omnipräsenten Stolpersteinen konfrontiert wird, widmet sie diesen ganz konkret eine ihrer größeren,
60 x 60 cm umfassenden Arbeiten, indem sie ein quadratisches Raster auf den betreffenden Stoff
stickt. Zunächst intuitiv ausgewählt, birgt so das in ihren Arbeiten als Form hervorstechende Quadrat
für die Künstlerin jüdischer Herkun noch einen weitere Sinnebene.
Formal erinnert ihr serielles Arbeiten an die meist monochromen Kompositionen aus Rastern und
Linien von Agnes Martin. Wie Martins Arbeiten strahlen die naturgemäß geometrischen
Entwebungen Micos eine Klarheit und Ruhe aus, in der aber weniger die Spiritualität als der Verlust
im Vordergrund steht. Das Entfernen von Garn läuft der 'Perfektion' des maschinellen Webens
entgegen und die dadurch resultierenden Unregelmäßigkeiten bilden damit in gewisser Weise die
Handschri der Künstlerin. Immer ist in Micos Notationen eine Fragilität zu spüren, eine feine
Setzung, die in der Wiederholung des kaum Wahrnehmbaren etwas Existentielles in uns anspricht –
den Mangel, das Verschwinden, aber auch ein Verbinden. Spuren, die wir als unsere Lebenslinien
hinterlassen.
Conny Becker, 2025
(1) Paca Sanchez tut dies etwa zeitgleich, aber weniger klassifizierend als Hernan de Vries, ebenso im Geiste der Arte Povera